Heiner hatte schlecht geschlafen. Er hatte sich gedreht, gewendet… Nein, er hatte es versucht, denn jede Bewegung hatte ihn schmerzerfüllt aufschreien lassen. Jeder Versuch, eine neue bequeme Lage zu finden, hatte damit geendete, dass ihm die Nadelstiche die Nervenenden durchbohrt hatten. Hatte er eine erträgliche Lage gefunden, vermeinte er nur ein leises verstecktes Lauern in seinem Rücken zu spüren, dass jederzeit wieder zum Monster werden konnte, bereit ihn zu peinigen, um ihn irgendwann loszulassen, so dass er erschöpft ins Kissen zurückgefallen war. Ermattet, erledigt und fertig. Und wenn er dann so dagelegen hatte, dem Selbstmitleid so nah, dann hatte er gehofft, dass das Monster ihm Zeit zum Einschlafen ließ. Irgendwann, das wusste er, würde es nachgeben.
„Na! Schöner Tag heute, nicht wahr, Heiner?“
Andreas strahlt ihn unverschämt gut gelaunt an.
„Ja, zum Kotzen schön! Heute feiert die Abteilung Lametta ihr großes Vielfalt Fördern-Fest. Dann ist endgültig Schluss mit Freizeit und so einem Kram.“
„Und er wird noch schöner! Da steht einer von deinen kleinen Fred Sonnenscheins vor der Tür und will dir was sagen!“
„Wer denn?“
„Jannick.“
„Ach Göttchen!“
„Und er hat seine Mami mit dabei!“
Andreas strahlte über beide Ohren.
Sie wollte mit ihm über seine Methoden im Unterricht sprechen und ehrliche Empörung spricht aus jeder Pore ihres kleinen fetten Körpers. „Wenn du mal weniger fressen würdest, und dich um die Erziehung deines Scheißkindes kümmern würdest, müsste ich jetzt nicht schon vor Unterrichtsbeginn hier stehen.“, denkt er und wartet ohne zuzuhören ihren Redeschwall ab.
„Und wie sollte ich ihrer Meinung nach auf die ständigen Entgleisungen reagieren? Ich habe schließlich noch dreißig andere Kinder in der Klasse?“
Natürlich wisse sie, dass das nicht immer leicht mit Jannick wäre, aber er hätte schließlich auch sonderpädagogischen Förderbedarf. Und es könne auch nicht sein, dass sie immer auf der Arbeit angerufen werde und abends ihren weinenden Sohn trösten müsse.
Klar, die Schule des gemeinsamen Lernens bewarb sich ja noch um die ganzen kleinen durchgeknallten Psychos. Also spricht er geduldig mit Jannicks Mama, während Jannick daneben seine vollgekritzelten Arme aufkratzt.
Der Gong zur erste Stunde setzte dem Ganzen ein natürliches Ende, er entschuldigte sich und machte Jannick darauf aufmerksam, dass er sein Verhaltensheft weiter führen müsse und natürlich die Abschreibeaufgabe bis morgen zu erledigen hätte. Frau Mutter von Jannick lässt er kurzerhand stehen und sieht aus den Augenwinkeln, wie sie sich in Richtung Büro der Direktorin in den zweiten Level ihres Empörungsspiels begibt.
Eigentlich hatte Heiner noch etwas kopieren wollen, aber das war jetzt wohl nicht mehr drin. Missmutig betritt er die 5b und seine Präsenz beendete das geschäftige Herumtollen nach seinem dritten Strich an der Tafel.
„Hast du vergessen, dass du heute Frühaufsicht an der Haltestelle hattest?“
Eigentlich waren die ersten Stunden toll gelaufen, denn er hatte einfach auf den Lehrplan von Maren zugegriffen und die Klasse mit Stillarbeit beschäftigt. Was so ein wenig Autorität doch bringen konnte. Dabei hatte er festgestellt, dass der Plan von Maren ganz gut wahr. Natürlich würden die Kinder mit dem ganzen Lernthekenkram kaum etwas lernen, aber letzten Endes war das moderner Unterricht, er nur Lernbegleiter und lernen würden sie eh nichts. Andreas hatte ihm sowieso immer gesagt, dass er sich einfach viel zu viel Arbeit mit dem Unterrichten machen würde.
Einfach den Scheiß nehmen, den die jungen Kolleginnen so aufopferungsvoll für den Unterricht erstellten. Das machte sich eh gut für die anstehende Qualitätsanalyse.
„Mist, fuck, die Mutter von Jannick hat mich aufgehalten!“
„Kein Problem! Ich bin für dich spontan eingesprungen. Kannst du jetzt für mich die Pausenaufsicht auf Hof 2 übernehmen.“
„Du bist ein Miststück!“
„You‘re wellcome!“
Annette hatte gestrahlt und ihm war natürlich klar, dass es an dem Grüppchen 9er und 10er lag, denen er sich nun humpelnd nähert.
Das stehen sie nun dichtgedrängt beieinander mit Jogginghosen, Badelatschen und riesigen Caps. Witzfiguren vorm Herrn. Der letzte Deppentrend, dass sie jetzt alle Handtäschchen tragen, macht die Sache auch nicht besser. Mike, Enes, Joshua und Ben blicken verstohlen in seine Richtung und geben den anderen allzu offensichtliche Zeichen dass sie ihre Kippen ausdrücken sollen.
„Moin, die Herren!“
„Guten Morgen, Herr Reck!“, lächelt ihn Chantal, ja sie heißt wirklich so, an und klimpert mit ihren lächerlichen angeklebten Wimpern.
„Du wirst dir eine Nierenentzündung holen, wenn du hier in der Kälte stehst und nur einen eingelaufenen Pullover trägst!“, sagt er und denkt: „Warum sind die Mädchen an einer Gesamtschule nur so unfassbar hässlich. Früher, zu meiner Zeit, haben die dicken Mädchen wenigstens Säcke getragen, damit man das Elend nicht sehen musste!“
„Das ist voll lieb, dass sie sich so lieb um mich kümmern. Ben macht sich nie Sorgen um mich.“
„Das ist die Jugend von heute, die hat einfach kein Benimm mehr!“
Heiner registriert, dass die Kippen alle unter den Sohlen verschwunden sind und er nichts mehr groß zu sagen braucht. Harte Arbeit war das, jetzt mit dem Grüppchen scherzen zu können. Harte Arbeit, deren Früchte er nun erntet, während das junge Gemüse mit dem neumodischen Schnickschnack ständig zusammenbrach. Ob sie ihn mochten, war ihm egal, wichtig war nur, dass er der Chef war.
Zufrieden beendet er die Pause vorzeitig, um noch schnell ein paar Arbeitsblätter zu kopieren und bei Frau Dr. Doppelname nachzufragen, wie denn das Gespräch mit Jannicks Mutter gelaufen war. Wie erwartet, hatte sie sie runterholen können und ihr auch noch ein paar Weisheiten in puncto Erziehung mit auf dem Weg geben können. Schließlich hatte Jannick ja schon zwei Klassenwechsel hinter sich und die Kolleginnen mit Burnout zurückgelassen. Heiner weiß, dass er die Ultima Ratio ist.
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