Prolog
Ich träumte, dass ich in diese verlassene Stadt reiste. Dort fand ich mich zwischen den Häuserwänden wieder, die die Regelmäßigkeit zweckmäßiger Wohnbebauung hatten, wie sie vielleicht in den 1950er und 1960er-Jahren üblich war. Die Straßen waren breit und das Grau der Fassaden dominierte die Helligkeit. Ich wanderte ziellos umher. Weder suchte ich etwas, noch hoffte ich auf Überraschungen. Das dauerte unbestimmt, bis sich die Häuserschluchten veränderten. Waren es zunächst ebenerdige, geradlinige Straßen und der Himmel dem Auge nicht präsent, so mäanderte der Weg nun aus der Stadt hinaus einen Anstieg hinaus. Die Bebauung wurde dünner und so reihte sich ein Häuschen, wie man es sich vielleicht in einem italienischen Bergdorf, dem Auenland oder Schlumpfhausen vorstellen mag. Der Himmel zeigte sich klar und blau, die Sonne strahlte, ohne zu brennen und ich ahnte, dass hier auch Menschen wohnten. Es tauchten Wegweiser auf, die die Richtung nannten, aber das Ziel verschwiegen. Mit einem Male wurde mir bewusst, dass ich alt war. Ich war unendlich alt: Ich hatte alles gesehen, mich begeistert, es mitgemacht, war mit- und vorangegangen, hatte sie alle gesehen, aber auch alles vergessen. Mir war klar, dass das alles passiert war, es wichtig und heute vergessen war. Warum es einmal wichtig war, daran erinnerte ich mich nicht, noch was es genau war. Es war Alles. Vereinzelt begegneten mir nun Menschen, die zunächst vorsichtig hinter Gardinen lugten, dann offen aus Fenstern schauten und sogar an mir vorbei liefen. Auch sie waren alt, zu alt um zu sterben, ebenso wie ich dazu erkoren, ewig da zu sein und zu zeigen, dass das alles wahr war. Ich kannte niemanden hier, fühlte mich aber nicht fremd, sondern als ob ich nach langer Zeit wieder nach Hause gekommen wäre. Aber zu Hause war niemand, den ich kannte. Ich hatte schließlich alle verlassen, die ich kannte. Dieser Gedanke war plötzlich da. Und plötzlich wusste ich, dass sie auch hier lang gelaufen sein musste. Es konnte nicht anders sein. So fragte ich nach ihr. Zunächst verneinten die Leute noch freundlich, aber manche meinten kurz, sich vielleicht noch zu erinnern. Es musste sehr lange her gewesen sein. Ja, es war lange her und sie hatte lang hier gelebt und noch länger gewartet. Ich sei aber nie gekommen. Und plötzlich wurde mir klar, dass die Zeit knapp sein konnte. Zeit konnte ein Problem sein, wenn die Unendlichkeit ein Fakt ist. Ich lief also schneller hoch, fragte immer eindringlicher. Man erzählte mir Geschichten über sie. Ja, jeder hatte sie gekannt. Sie hatte Lieder geschrieben. Sie hatte gesungen und die Herzen berührt. Sie selbst hatte immer gewartet und sei dann weiter gezogen. Ich lief schneller. Hörte neue Geschichten, die mich begeisterten und ärgerte mich schließlich, dass ich wieder so lange zugehört hatte. Die Zeit: Ich hatte unendlich davon, aber sie … sie womöglich nicht. Wenn ich sie doch nur finden könnte, dann wäre alles gut. Ich bräuchte sie nur zu berühren und wir hätten diese Unendlichkeit. Dann könnten wir das alles nachholen, wir könnten es immer wieder erzählen und es wäre immer neu. Alles andere war unwichtig jetzt! Sofort musste ich sie finden. Da zeigte einer mit dem Finger auf das Haus am Weg oben. Da sei sie zuletzt gewesen. Da wohnte sie. Ich riss die Tür auf! Und sofort sah ich, dass sie es war, die hier lebte. Ich sah die Bilder an den Wänden, ihre Bücher, ihre Gitarren und all die Sammel- und Fundsachen eines Lebens. Ich riss die Schränke auf, sah ihre Kleider und das Geschirr. Alles war wohl geordnet und sauber. Doch ich hörte kein Geräusch, roch nichts, und sah sie nicht. Aber gleich sollte sie hier sein. Ich wollte auch sie warten, setzte mich vor die Tür, um das zu tun. Da kam der Mann und sagte mir, dass man sie gestern geholt hatte. Sie hatte so lange gewartet, viel länger als jeder geglaubt hätte. Jedem hatte sie gesagt, dass ich eines Tages kommen würde. Alle hatten nur den Kopf geschüttelt, schließlich war ich ja noch viel älter als sie. Sie hatten ihr über das Haar gestrichen. Gestern war sie eingeschlafen.
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