Die Bürgerhilfe
„Schätzchen!“, sagt Frau Postel, meine neue Sachbearbeiterin zu Thomas, „Die letzten zwei Monate nimmst du den Jens mit auf Tour, zeigst ihm alles und arbeitest ihn ein.“
Frau Postel ist 55 plus, blond übergewichtig und Raucherin sowie Sekretärinnenbrillenträgerin. Außerdem sagt sie auch zu mir Schätzchen.
9 Uhr ist es und ich war schon um 8:50 da. Sicherheitshalber fuhr ich ein paar Minuten früher. Man will ja schließlich nicht direkt am ersten Tag zu spät kommen. Aber geklingelt habe ich auch erst um Punkt 9. Es gibt schließlich auch Leute, die es unhöflich empfinden, wenn man zu früh erscheint.
Ich sorge mich doch noch, dass das hier vielleicht doch noch so ein typischer scheiß Zivi-Job wird, und nicht der erwartete Lauschepper-Job. Schließlich kenne ich alle Horrorstorys vom Zivildienst: So Schichtbetrieb im Krankenhaus oder Altenheim, mit Kacke, Kotze und Blut wegmachen. So schlimm, wie das in einer Kaserne in scheiß Lüneburg gewesen wäre, das wäre schlimmer. Ringelpietz mit Anfassen in wirklich: ekelhafte Menschen, beinahe totes Fleisch, kurz vorm Abgang und jemand muss sich drum kümmern. Das Schlimme: Ich kann mich nicht einfach wegdrehen und rausziehen. Da ist ja sonst keiner. Als Zivi bist du das untere Ende. Scheiße, es schüttelt mich. Oder Behinderte: Papa hat immer Brunos zu den Spastis gesagt, wenn ich ab und zu mit auf Tour war. Der konnte das voll ausblenden.
„Da hat sich der Bruno eingeschissen, haha! Hab‘ ich den sofort im Nacken gepackt, Karnickelfangschlag und unter die Dusche. Schön mit dem Schlauch abgespritzt und dann durfte er den Sitz schön mit Sagrotan saubermachen.“, erzählte er einmal begeistert.
Ich bin da anders, ich habe gelernt, Menschen zu respektieren und keinen Unterschied zu machen. Allein deswegen könnte ich das nicht. Ich meine, ich weiß, was richtig und falsch ist. Darum muss man Situationen vermeiden, die das Richtige von einem fordern.
„Sehr gerne!“, sagt Thomas und setzt mit gespielter Trauermine fort, dass es ja schlimm sei, dass er jetzt nicht mehr zu ihr ins Büro kommen könne und wie schade das sei, jetzt diesen Traumjob mit einer solch gutaussehenden und fähigen Chefin zu beenden.
Die alte Vettel steigt natürlich voll drauf ein. Thomas weiß genau, wie man das macht. Ob der das bei allen Frauen kann? Er sieht ja so geleckt aus, so ein klassischer Thomas halt: Mindestens 1,85 groß, sportlich, braune gegelte Haare und Jeans mit Hemd. So einer kommt immer gut an. Mal gucken, wie er so drauf ist. Hoffentlich ist er nicht so ein richtiger Schleimer. Ich mag ja eher die hinterfotzigen Typen, die sich ihrer Wirkung voll bewusst sind.
In so kurzer Zeit werde ich das wohl nicht rausfinden. Sind ja auch nur zwei Wochen, wie mir Frau Postel noch offenbart, weil ich noch sechs – SECHS!!! – Wochen nach Herdecke auf so eine Zivildienstschule muss.
Draußen rauchen wir erst mal und Thomas erklärt mir gleich, wie das mit der Zivildienstschule läuft:
„Also Jens, das kann man da aushalten. Du musst dir nur direkt deinen richtigen Ausbilder suchen. Das wissen die Meisten nicht. Nach so einer Einführung stehen die alle zusammen auf so einer Bühne und jeder geht zu dem, den er irgendwie gut findet oder gut finden könnte. Die sind aber teilweise ganz schön durch den Wind und das ist nicht gut. Die meisten sind so Lehrer, die so schlecht sind, dass sie keine Schule gefunden haben. Deswegen müssen die so Kurse geben. Ich mein, du lernst da eh nichts. Jeder weiß das und niemand sagt das. Trotzdem nehmen die ihren Job ernst und schikanieren dich dort, wenn du nicht nach deren Pfeife tanzt.“
„Das heißt jetzt aber nicht, dass ich durchfallen kann?“, versuche ich einen Scherz.
„Doch!“, entgegnet er todernst, zieht noch mal an seiner Marlboro, lässt sie locker fallen und drückt sie sorgfältig mit seinen beigen Westernstiefeln aus. Das alles dauert, die Zeit gerät kurz ins Stocken und er erklärt mir dann, dass sie einen dazu verdonnern können, den Kurs noch mal zu machen. Und angeblich sei es sogar so, dass das Bundesamt für Zivildienst bei wiederholtem Verstoß die Zivildienstzeit verlängern könne. Gleiches gelte, wenn ich öfter als dreimal zu spät käme.
„Aber das ist ganz schön heftig, wenn ich von Duisburg nach Herdecke fahren will. Ich meine, die scheiß Autobahn ist doch morgens immer voll, egal ob das die A40, A42 oder A3 ist!“
„Bist ja ein richtiger Checker. Pass auf! Jetzt kommt es noch besser: Du darfst gar nicht nach Hause fahren. Du bist schön brav sechs Wochen im wunderschönen Herdecke.“ Den letzten Satz sagt er mit sichtlichem Genuss, relativiert aber direkt, als er den Blutentzug in meinem Gesicht bemerkt: „Eigentlich ist das ja auch ganz geil da. Ich hatte jede Menge Spaß mit den Jungs. Für die anderen ist das ja auch Erholung. Du glaubst gar nicht, was die alles schon alles für Hammerstorys draufhatten. Da wird dir erst mal bewusst, wie gut du das hier hast. Aber zurück zu den Ausbildern: Du stellst dich im Raum ganz rechts vorne auf und lässt dich nicht nervös machen, wenn die anderen schon alle suchen. Ich meine, ein paar wirken bei der Vorstellung noch ganz nett, andere geben sich gar keine Mühe und sehen schon voll frustriert aus, gerade die Frauen. Zu denen geht erst mal keiner. Aber ein Typ, der in der Vorstellung was von Ernährungsberatung erzählt, so einer mit Schnauzbart, etwas zerknittertem Gesicht, der nicht besonders motiviert wirkt, der kommt immer als letzter noch dazu, war auf Klo oder so, da sind fast alle schon verteilt, zu dem gehst du dann fix. Der ist echt ein Knaller! Superlustig und der einzige, der weiß, was das alles für ein überflüssiges Zeug ist. Und wenn der dann mit euch draußen ist, ihr geht in euren Raum, dann seid ihr zu viele. Darum erzählt er dann erst mal, was er so von Pünktlichkeit, Ordnung und Disziplin hält. Der tut dann so, als ob das voll der Strenge wäre. Einige kriegen Angst und wechseln zu den frustrierten Pädagoginnen…“
„Und ich bleibe cool!“
„Genauso! Und jetzt fahren wir erstmal zu Frau Eichendorf. Ich fahre! Du kannst ja morgen!“
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