Gestern Morgen teilten mir die Wände einer Duisburger U-Bahn-Station gleich dreimal in blauer und roter Farbe mit, dass Osman und Tugba zurzeit Geschlechtsverkehr haben. Wenn diese simple Tatsache für bemerkenswert genug gehalten wird, alle Diskretion und Schamhaftigkeit über Bord zu werfen, muss entweder der Sex außergewöhnlich oder das Warten auf den Vollzug des Aktes geradezu unerträglich gewesen sein, so dachte ich bei mir und freute mich für die beiden, gar nicht erst ins Kalkül ziehen wollend, ein Dritter könnte die reichlich unbeholfene Sprühaktion in denunziatorischer Absicht durchgeführt haben.
Während ich noch der Frage nachsann, auf welch vielfältige Weisen Osman und Tugba ihre körperliche und vielleicht sogar seelische Vereinigung vollzogen, las ich aus Versehen auf den Brüsten einer jungen Mutter einen T-Shirt-Spruch, welcher mich schonungslos davon in Kenntnis setzte, dass ein Leben ohne Schlittschuhe zwar möglich, aber sinnlos sei. Schlagartig wurde mir bewusst, selbst nie ein Paar besessen zu haben, und erschüttert wie seinerzeit Chili erkannte ich auf einmal die Ursache meiner allzu langen, bis heute erfolglosen Suche nach einer Antwort auf das große, das omnipräsente und alles stets verdüsternde „Warum?“, das mir von Kindesbeinen an wie eine spitze Klinge tief im Rücken stak und mich als schwer Verwundeten, oft auch Verwunderten, mindestens 33 Jahre lang zwischen allen Stühlen, Stämmen und Fronten umher taumeln ließ, an Kraft verlierend, bloß Ekel gewinnend, mitunter blind vom Schmerz. All das Leid, für mich und jene, die das Pech hatten, mir ewig hungerndem Sehnsuchtsbatzen in diesem andauernden Zustand der Aufgewühltheit und erbarmungslos brennenden Ungeduld zu begegnen, hätte vermieden werden können, bereits durch ein relativ bescheidenes Weihnachtsgeschenk zudem, wären meine strunzdummen Erzeuger nur zu einem einzigen klaren Gedanken in der Lage gewesen.
Fürwahr, Aufklärung tut weh! Doch gilt es, nicht beim enttäuschten Klagen über die Umnachtung der Vergangenheit und der Ahnen zu verweilen, sondern aus der frischen Erkenntnis Taten wachsen zu lassen wie Raketen aus nordkoreanischer Erde. Gleich einem Film, von dem man nichts behält, weil keine der Figuren einem etwas zu sagen hat, zog dann der lange Arbeitstag an mir vorbei und nicht einmal den stumpfesten Kollegen gelang es, anders als sonst, tiefe Gruben der Resignation für mich auszuheben. Wer erst die Witterung des Heils aufgenommen hat, der hat weder Aug noch Ohr für´s schäbige Diesseits, der ahnt ein Licht jenseits von Neonröhren und Displays.
Endlich zuhaus bestellte ich, die Jacke noch am Leib, bei einem zügig liefernden Weltkonzern sogleich jenes Paar Schlittschuhe, welches ich unbewusst beinahe mein ganzes Leben so bitter entbehrt hatte, im schönsten Rot, wie sich versteht, denn dies war für mich über die Jahre die Farbe aller Hoffnung gewesen und ich neige zur Sentimentalität.
Für einen Augenblick verspürte ich eine mir bislang unbekannte Ruhe, als sei ich plötzlich enthoben allem, was war, und allem, was immer noch ist, dem Krieg und dem Völkermord, dem Hungertod und der Sklaverei, der Ausbeutung und der Nekrophilie, dem Sexismus und der Homophobie, dem Rassismus und dem Antiintellektualismus, der Verblödung und der Verrohung, der häuslichen Gewalt und der Vernachlässigung, der Mafia, dem Kapital und der FDP, ja sogar Turnschuhe und Socken an Frauenfüßen schienen mir plötzlich weniger widerlich. Schon sah ich mich nahezu schwerelos über das dünne dicke Eis der Welt gleiten, mit blauen Lippen Pirouetten drehen, im kindlichen Spiel nur den gefürchteten Schwindel suchend, erblickte ich mich beim doppelten Lutz und beim vierfachen Rittberger in noch kältere Gefilde aufsteigen, ungerührt von allem Hoffen, Streben und Verzweifeln des alten Menschen, von der Rache restlos befreit.
Vor lauter Freude und Dankbarkeit ob dieser glücklichen, mich weit mehr als der Morgenstuhl erleichternden Fügung verfiel ich jedoch unglücklicherweise alsbald auf die Idee, zu den bekuften Übermenschen-Tretern auch noch das T-Hemd der voluminösen Mama vom Morgen in meiner Größe zu erstehen, um die frohe Botschaft, ohne allzu viel verbalen Kontakt, an meine Mitbürger übermitteln zu können. Oh, erneutes Weh! Die verhängnisvolle Recherche nach diesem Textil zerstörte allen gerade gefundenen Frieden binnen Sekunden!
„EIN LEBEN OHNE BÄRLAUCH IST MÖGLICH, ABER SINNLOS!“ schrie es mir von einer Tasse entgegen, ein Shirt behauptete das Gleiche vom Camping, ein weiteres vom Surfen und auf einem Mädchenrucksack waren es Nagellack und Haarverlängerungen, welche meiner Existenz einen Sinn geben sollten.
„TAND! TAND! TAND!“ brüllte ich, von der Beliebigkeit, mit der hier die unterschiedlichsten Akkusativobjekte als Glücksversprechen in den eben noch geliebten Satz gepresst worden waren, wie von 1000 Gummigeschossen getroffen. Es gab keine Substanz! Wieder nicht! Alles war und blieb am Ende austauschbar, profan und banal, Waren wie Menschen, Gefühltes, Gedachtes und vorgekaute Sülze. Nichts für den Kopf, nichts für ein Herz, das wirklich lachen will.
Doch noch war ich nicht bereit, mich meinen alten Gefährten, dem Hass und der Abscheu, abermals in Gänze anzuvertrauen, noch klammerte ich mich an die magere Hoffnung auf einen reinen Ursprung der vielleicht lediglich verfälschten und missbrauchten Aussage. Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger kamen mir in den Sinn und ich überlegte angestrengt, welcher Philosoph diese Formulierung wohl einst gewählt haben könnte und welches Ding ihm dabei als das Wichtigste deutlich vor Augen gestanden hatte. Die Musik? Musste sie´s nicht sein? Oder war es ein Vermögen, das Denken etwa? Zuletzt ließ ich mir von Google helfen.
Was soll ich sagen? Wollt Ihr, dass ich lüge? Oder wisst Ihr ´s schon, Ihr halbgebildeten Äffchen? Meine Ernüchterung jedenfalls war vollkommen. Das gesuchte Wort war „Mops“! Ein Köter, noch dazu ein besonders hässlicher! Offenbar stammte der Satz von einem bürgerlichen Komiker, der durch ihn seiner Vorliebe für missgebildete Vierbeiner Ausdruck verlieh, und alle drei, Satz, Verfasser und Hund, waren längst mit dem zum Attribut degradierten und entleerten Begriff des „Kults“ bedacht worden. Von weit her hörte ich eine Schar immatrikulierter Idioten „Mehr Lametta!“ grölen.
Ich erwog ernstlich, mir in den Kopf zu schießen. In Ermangelung einer Pistole griff ich schließlich zum Whisky und bestellte die Schlittschuhe wieder ab.
Die Nacht war schwer. Ich träumte von einer Schüssel voller Bärlauch-Suppe, die nie leer wurde, und von unermüdlichen Frisören, die mein kurz geschorenes Haar verlängerten, bis ich ein um´s andere Mal darüber stolperte. Der ganze Campingplatz und alle Surfer lachten. Mehrmals erwachte ich schweißgebadet, den beißenden Gestank von Nagellack in der Nase, was mich noch mehr beunruhigte, denn ich habe mal gelesen, dass ein Gehirntumor auch den Geruchssinn verrücktspielen lassen kann.
Heue früh saß ich dann wieder am Bahnsteig und wartete, noch halb betrunken, auf meinen Untergrund-Zug zur Schule. Mich einfach davor zu werfen, wäre immerhin eine Option, dachte ich, als ich plötzlich von links Schritte vernahm, die sich mit jenem Geräusch näherten, welches hohe Absätze bei der Berührung mit harten Böden zu erzeugen pflegen. Vorsichtig, die Angst vor neuen Enttäuschungen noch im Bauche, blickte ich auf und zu meiner Überraschung in die freundlichen Augen einer selbst mit Maske recht hübschen Blondine. Dann nahm ich das Oberteil wahr, das sie über ihrem kurzen schwarzen Rock trug, und darauf stand: „Wer nicht gern mit meinen Hupen spielt, der hat den Sinn des Lebens nicht verstanden.“
Der glückliche Osman fiel mir ein und ich beschloss, mich der jungen Denkerin vorzustellen:
„Guten Morgen, mein Name ist K. und ich bin Sinnsucher.“
Sie kicherte.
Die kleine Pause von Krieg und Völkermord, Hungertod und Sklaverei, Ausbeutung und Nekrophilie, Homophobie und Rassismus, Arbeit, Kollegen und Schülern tat mir wohl. Das mit dem Sinn war freilich zu viel versprochen.
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