Die Emanzipation des Menschengeschlechts im AZ

Robert ruderte
wild mit den Armen.
Das tat er regelmäßig,
seit er erkannt hatte,
dass er selbst
eine Windmühle war.
Natürlich blieb er
in der Antifa.
Nur wenn auf Demos
Ketten gebildet werden sollten,
wurde es mitunter schwierig
mit ihm.
Seine Psychologin meinte:
„Solange es ihm damit gut geht …“

Paul hatte ebenfalls
ein Problem.
Sein/e Freund*in Piroschka
hatte vor kurzem bemerkt,
dass sier keineswegs nur
genderfluid
war. Auch sies sexuelle
Orientierung
konnte sich
von Augenblick
zu Augenblick-
ändern.
Eines Vormittags,
Paul vollzog gerade,
nach vorschriftsmäßiger Anfrage
und mustergültigem Vorspiel,
vermeintlich
einvernehmlichen Geschlechtsverkehr
an siem, brüllte sier plötzlich:
„Du Schwein!
Ich bin hetero!“
Er brauchte einen Moment,
um sies berechtigtes Anliegen
zu durchdringen,
hörte aber sofort auf.
Nur war es da schon
zu spät.
Sier ließ den Vorfall
beim Plenum
von einer Vertrauensperson
thematisieren
und nach kurzem
Prozess
war Paul draußen.
Als Täter fügte er sich
wortlos dem
Urteil,
von dem mensch auch die
autonomen Zentren der Nachbarstädte
gleich in Kenntnis setzte.
Eine Stunde später
ging sein Handy
und Piroschka sagte:
„Ich hab grad Lust.
Komm und fick mich!“
Ach, der ganze Frühling
war ein Hin und Her.

Maria erschien
seit einer Weile
nicht mehr zum Thekendienst.
Es hieß, sie sei Alkoholikerin
und versacke jetzt
total.
Niemand wusste etwas
Genaues.

Johnny hatte sich
auf dem letzten Punkkonzert
übergriffig verhalten,
als er Stefan,
der Maria ersetzte,
seine „kleine Bierschlampe“
genannt hatte.
Er erhielt ein
Hausverbot
von 1917 Tagen.
Tanja, die sich
getriggert
fühlte, hatte auf „Lebenslang!“ plädiert,
Stefan, der
Johnny von Kindesbeinen kannte,
angemerkt, dass ihm eine Woche
genügen würde.
Nach angestrengter Diskussion
gelangte man
zu dem erwähnten
Kompromiss.
Stefan stand fortan
auf Tanjas
Liste.

Als er Piroschka
erklären wollte,
wie die Zapfanlage
zu reinigen sei, wurde ihm
Mansplaining
vorgeworfen, bis er
weinend
zusammenbrach.
Seither ward er
nicht mehr gesehen.

Die nächsten Konzerte
mussten abgesagt werden.
Guido, der Tontechniker,
der mit Claudia
in einer Beziehung war,
hatte ihre Wahrnehmung
infrage gestellt.
Der Ausgangspunkt:
Guido hatte ein
sexuelles Bedürfnis
formuliert
und Claudia
dies empört
als Abwertung ihrer Person
und sexistisch
zurückgewiesen.
Nun kam noch
Gaslighting
hinzu.
Es dauerte
ein paar Wochen,
bis sich mit Ash eine
FLINTA-Person
für das Mischpult
gefunden hatte.
Der Sound war fortan ein wenig
breiig,
aber korrekt.

Wahrnehmung
war überhaupt ein großes Thema.
Ein Gast,
der Tanjas Netzstrümpfe
wahrgenommen hatte,
wurde, seines
versauten Grinsen wegen,
durch die Tür geprügelt.
Außerdem
war er ihr zu alt.
Und immer wieder
wurde Piroschka falsch
angesprochen.
Claudia hingegen
passierte das gar nicht mehr.
Männer seien eben
Wattepimmel,
meinte sie.

Auch in der Konzertgruppe
herrschte
selbst im brüllend heißen Sommer
Einigkeit.
Wichtiger als Musik, Texte und
die Fähigkeit zu singen
waren die Geschlechtsidentitäten
der einzuladenden Musiker*innen.
Daran, dass es noch immer
mehr Männer- als Frauenbands gab,
sei ohnehin einzig das
verdammte Patriarchat
schuld.
Matthias nickte
und erinnerte sich daran,
dass Gespräche mit Frauen,
wenn es um Musik ging,
stets recht schnell
vorbei gewesen waren.
Aber das lag ganz sicher
an ihm.

Für ein, zwei Wochen
versuchte er,
sich auf Körperlichkeit
mit Peer einzulassen.
Er hatte gehört,
dass Heterosexualität
ein Konstrukt sei.
Nachdem er sich
beim Blowjob übergeben hatte,
hatte allerdings auch Peer
die Lust verloren.
Und so wichste Matthias wieder
auf Lesbenpornos.
Heimlich,
wie sich versteht.

Im Herbst erfuhr man,
dass Guido
sich aufgehängt hatte.
„Toxisch
bis zum Schluss!“
kommentierte Claudia.
Piroschka, Ash, Tanja, Robert, Matthias und Peer
fanden das auch.

Beim Kneipenabend am Donnerstag
warf Letzterer dann zwei Geflüchtete
aus dem Irak
raus.
Sie hatten
Pali-Tücher getragen.
Israel und Palästina
waren zwar schon länger
nicht mehr so präsent,
aber was zu viel war,
war zu viel.
Robert hatte zur Bekräftigung
seine Arme kreisen lassen.

Dann war es wieder Winter.
Maria war,
Gerüchten zufolge,
unter irgendeiner Brücke
erfroren.
Viel schlimmer:
Piroschka und Matthias
hatten in kurzer Folge
das AZ verlassen müssen.
Erstere hatte mit der
neuer Frisur
die Jamaikaner enteignet,
was Matthias
immer noch
die Tränen in die Augen trieb.
Die Leute dort
hatten doch sonst nichts,
bloß ihre Kultur.
Er selbst hatte dann aber
(unbedachterweise, im Suff)
einen befreundeten Drummer verteidigt,
als dieser sich auf der Bühne
das T-Shirt auszog.
„Unsolidarisch und ekelhaft!“
fanden das zwei der drei anwesenden Flintas.
Zumal dieser trommelnde Mittvierziger
eine scheußliche Wampe hatte
und schwitzte
wie ein Schwein.
Wer will so etwas sehen?

Nun saßen
Tanja, Ash, Claudia und Peer
beisammen und überlegten,
wie sich neue Leute,
möglichst noch mehr Flintas,
für die Theke und die Konzertgruppe
gewinnen ließen.
Die letzten Bewerber*innen
hatten die
Pronomen
einfach nicht draufgehabt.
Genauso wie Robert, der,
wie mensch hörte,
an der Uni
auch schon wieder
Schwierigkeiten hatte.
„Cis-Pack!“
zischte eben Ash,

da knallte plötzlich die Tür
gegen die Wand
und zwanzig Bullen
stürmten herein,
ganz in schwarz.
„Dieser Saustall
wird jetzt dichtgemacht!“
kommandierte der Zugführer.
„Aber wir haben einen Vertrag!“
wandte Tanja ein.
„Jetzt nicht mehr!“
Der Zugführer grinste unter
seiner Hasskappe.
„Wohl die letzte Wahl verpasst, wa?“
„Wir gehen nicht wählen,
du dumme Fotze!“
kreischte Peer.
Und biss sich gleich
auf die Zunge, denn
Tanja, Ash und Claudia
starrten ihn an,
ausnahmsweise schweigend und
zornesrot.

Kein Wunder,
dass der Kontakt abriss.
Ash ging zurück
in die Kleinstadt,
in der ihre Jugendliebe Petra
für die CDU
im Stadtrat saß und
ihre Eltern
ein Haus hatten.
Claudia wollte nicht
mit Tanja in eine WG ziehen,
weil die so nuttig rumlief
und alle Macker
nur sie anglotzten.

Und Peer?
Der wurde einfach alt.
Und alt, arm und schwul,
das ist nicht leicht,
nicht einmal, wenn man
weiß ist.

 

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