Ich hör‘ Charts: Das S-Wort, der Algorithmus und ich

Musik ist für mich wie eine Sucht: ich brauche davon immer sehr viel und experimentiere damit gerne. Dabei ändern sich meine favorisierten Geschmacksrichtungen permanent. Was ich gestern noch total geil fand, langweilt mich zwei Tage später, um dann Jahre später wieder aufzuploppen und für großartig befunden zu werden. So tauchen manchmal Zombies wie Oi! oder Tough Guy-Hardcore regelmäßig wieder auf. Es gab Zeiten, in denen ich mich dafür schämte, mal Gothic gehört zu haben. Das geht mir heute vielleicht mit Skapunk so. Musik mit Tröte hat es traditionell schwer bei mir, genau wie alle Arten von Hobbit-Musik, Heavy Metal oder mit Erziehungsauftrag verbundenes. Aber die Ausnahmen bestätigen die Regel.

Vasco sagte mal, dass das einzig Konstante in dieser Beziehung sei, dass es diese nicht gäbe. Erleichtert wird dies dadurch, dass ich überhaupt keine Ahnung von der handwerklichen Seite der Musik habe. Ich bemerke maximal die Überproduktionen, mit der mangelhafte Kreativität in Szene gesetzt wird. Aber ob jemand einen Ton richtig trifft, ist mir wuppe. Wer interessiert das?

Musik muss mich aufhorchen lassen. Und am liebsten höre Musik aus der Konserve. Manches kriege ich für den Blog hier zugeschickt, was immer wieder schön ist. Am liebsten werden aber Verrisse auf dieser Seite gelesen, was ich tatsächlich auch gerne mache, aber nicht bewusst forciere. Schließlich steckt auch in dem von mir belanglos Bewertetem Herzblut oder was die Erzeuger dafürhalten.

So bewege ich mich Social Media-geleitet in einer feinen Blase gegenseitiger Zuneigung und Abneigung. Einzige Möglichkeit hier auszubrechen, war es früher, die grandios kuratierte Liste von X-Mist-Empfehlungen durchzustöbern und Neues bei Armin käuflich zu erwerben, was ich wirklich nirgendwo fand. Parallel habe ich dazu schon immer das Ox durchgeackert und -TRIGGERWARNUNG! Jetzt kommt das S-Wort!- bei Spotify geprüft, ob dass denn auch so stimmt oder die Besprechung dem wertschätzenden Umgang mit Neuerscheinungen geschuldet ist. So füttere ich meine beiden öffentlichen Listen. Eine Liste mit 47 Hits und eine mit 47mal dem größten Schrott. Lustigerweise versperrt der Spotify-Algorithmus natürlich die Schrottliste in seiner Suche, da natürlich nur positiv in den sozialen Medien gesprochen werden soll.

Neben dem Ox nehme ich natürlich die Empfehlungen von Freunden immer ernst und bin in ein paar Newslettern per E-Mail. Da jede Woche jede Menge Musik neu erscheint, verschwinden halt auch Songs aus den öffentlichen Listen und ich überlege, ob die Songs ein zweites Leben in meinen Lieblingssongs bekommen, die ich gerne unterwegs höre. Wie der Algorithmus hier das Zufallswiedergabeprinzip wahrnimmt, habe ich noch nicht verstanden, aber wenn ich die Jahresauswertung bekomme, kann ich regelmäßig sagen, dass die meistgespielten Songs die Streichkandidaten aus der privaten Herzchenliste sind.

Sonst höre ich natürlich gerne auch physische Tonträger und bemühe mich, um CDs und in ganz seltenen Fällen um das Vinyl. 7inches kaufe ich allerdings gar nicht. Da CDs mittlerweile seltener gemacht werden und viele saugeile Musik gar nicht in Deutschland zu bekommen ist, würden viele Künstler von mir gar nicht gehört werden.

Und jetzt kommt Spotify wieder ins Spiel.Es gibt da ja den feinen Mix der Woche, der jeden Montag basierend auf meinen Listen neue Empfehlungen ausspricht. Und wie ich finde, macht der das sensationell gut. Regelmäßig tauchen da Bands von den Inseln dieser Welt auf, die mich begeistern können. Schier unendlich scheint das Potenzial an unerhörtem Ungehörten.

Beispiele gefällig? Sytnth Pop aus L.A. mit knapp über 40 monatlichen Hörern von Kevin Litrow, der unter dem Namen LITRONIX firmiert. Genaueres weiß man nicht. Besonders ich nicht, denn ich kenne mich nicht aus in dem Genre. Oder COSMIT aus Bristol, die bisher nur ein paar digitale Tracks draußen haben. Großartig poppiger Garagepunk mit ganz besonderem Sänger. Okay, die BENEFITS aus dem Nordosten Englands sind auf INVADA, also nicht ganz aus der Welt, und die Verwandtschaft mit den Sleaford Mods ist nicht zu leugnen, aber geil sind sie trotzdem. Oder all die großartigen holländischen Bands wie BONGLOARD, HANG YOUTH, PLOEGENDIENST oder MARIA ISKARIOT hätten niemals den Weg zu mir gefunden, ohne Spotify. ELLIOT & VINCENT aus Neuseeland haben gerade mal einen Song raus. Das Duo erinnert etwas an ESCAPE-ISM, hat aber eine Sängerin. STAF aus Schweden hätte ich nie für mich entdeckt. Kenne kaum eine Band, die für mich so skandinavisch schön klingt.

Wenn dann eine Band wie GALLUS über Flight 13 zu kriegen ist, freue ich mich wie Bolle. Dann wird auch das komplette Album gerne am Stück gespielt. Persönliche Begegnungen wie mit MERYL STREEK führen dann auch zum direkten Kauf seiner Tonträger. Das Porto für CDs ist ja bekanntlich halbwegs erträglich. Und wenn sie dann einmal ihren physischen Vertreter hier haben, dann vergesse ich sie sicher nicht.

Schwierig ist es allerdings, sie im Gedächtnis zu halten, wenn mir der Repräsentant im CD-Regal oder im schrumpfenden Vinyl-Fundus fehlt. Dann kann ich häufig die Frage, was ich denn momentan gerne höre, gar nicht mehr beantworten. Irgendwas aus England, Australien und Holland ist momentan immer, aber wie hießen die noch? Ach ja, LANGKAMER und JOOLS, da musste ich die Liste auf dem Handy für durchwühlen.

Das ist irgendwie entwürdigend, so zu antworten, so muss man sich fühlen, wenn man die Antwort „Ich hör‘ Charts“ gibt. Aber zugeben, ich liebe ALGORYTHMEN.

 

 

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