„Gerne der Zeiten gedenk ich/ da alle Glieder gelenkig …“, formulierte einst ein großer alter Mann, wehmütig auf agilere Tage zurückblickend. Fürwahr! Zwar schrieben wir in den langen Nächten unseres ersten Frühlings keine Goethe-Texte an Wände und Laternenmasten, doch empfanden wir als von allen Seiten bedrängte Stürmer, zwischen den durchpogten Festlichkeiten, den Katerfrühstücken und den überlebten Demos, immerhin noch die revolutionäre Sprüher-Pflicht, unsere Mitwürger wissen zu lassen, dass hier und anderswo seit je so manches im Argen lag (und liegt) und es bessere Wege gibt, sein Leben auf diesem Planeten und in Gesellschaft anderer Menschen zu gestalten, als den marktwirtschaftlichen, der ja doch nur zum Faschismus führt. Oft blieb es bei harten Parolen und so unbarmherzigen wie ungehörten Schlachtrufen, gewiss, aber ich möchte uns zugutehalten, dass wir, abgesehen einmal von Nazis, Kapitalisten und sogenannten Ordnungshütern, niemandem feindlich gesinnt und unsere Sprüchlein für jedermensch verständlich waren.
In den letzten 20 Jahren scheint sich nun einiges verändert zu haben. Tatsächlich stimmen mich die Graffiti und Edding-Schmierereien, die mir in unseren Tagen begegnen, häufig nachdenklich, allerdings nicht im Hinblick auf meine politischen Standpunkte, sondern vor allem bezüglich ihres Sinns, den ich mir oft erst nach schmerzvollen Minuten zu erschließen in der Lage bin. So las ich gestern an einer Straßenbahn-Haltestelle in Duisburg-Hochfeld das Folgende: „hey ich bin Aleen und ficke yeden gay“.
Schon aus Gründen meiner Profession hinter jeder Lese-Rechtschreibstörung stets das Positive suchend, dachte ich zunächst „Immerhin, dieses Kind kennt seinen Namen und seine Bedürfnisse“, jedoch nicht ohne zugleich ein starkes Unwohlsein ob der unverhohlenen Aggressivität des zweiten Satzteiles zu verspüren. Enthielt die zutiefst übergriffige Aussage etwa das Bekenntnis zu einem grausigen Fetisch, getragen von einem zur brutalsten Egomanie übersteigerten Selbstbewusstsein, so fragte ich mich, denn selbst wenn einige homosexuelle Männer einem solchen Experiment gegenüber nicht abgeneigt sein sollten, konnte doch unmöglich davon ausgegangen werden, dass alle mit dieser forschen (und überdies recht ehrgeizigen) Ankündigung einverstanden sein würden. Sogar wenn es sich bei Aleen, anders als der Name vermuten ließ, um einen bepimmelten Menschen handeln sollte, drängte sich, wie auch bei der Interpretation von Goethes „Heidenröslein“, der Begriff der ,Vergewaltigung’ geradezu auf. „O Aleen“, dachte ich also weiter, „was stimmt bloß nicht mit dir?“ Doch war das schöne Verb „ficken“ hier tatsächlich sexuell konnotiert? Meinte Aleen damit nicht eher, sie (oder er oder sier) werde alle Schwulen fertigmachen? Machte das die Sache besser? Ging hier eventuell die Angehörige eines gesellschaftlich benachteiligten Geschlechts alle Angehörigen einer anderen zu oft missachteten Gruppe an, wie es leider immer wieder geschieht? Mein zwergwüchsiger Chemie-Lehrer, der Deutschland mit Wasserstoff-Atomen verglich und behauptete, es zöge „Asylanten“ an wie letztere andere Ionen, kam mir in den Sinn, sodann jede für den Mindestlohn malochende Verena, die Geflüchtete mit Steinen bewirft, und zuletzt ein biertrinkender Rolli-Insasse ohne Beine, der, seine OP-Maske lässig am Halse tragend, in der Bahn auf die Jugend von heute schimpfte, obwohl die Türken-Jungs ihm in der überfüllten Corona-Rappelkiste bereits so viel Platz wie irgend möglich gemacht hatten. Die Reihe ließe sich noch lange fortsetzen, aber stammten die beiden krakeligen Zeilen überhaupt von Aleen? Hatte vielleicht irgendein bösartiger, der untersten Schublade entsprungener Schelm die wüste Drohung auf ´s Metall gekritzelt, um eine nichtsahnende Mitschülerin, einen Transmenschen oder geschlechtlich Unentschiedenen dem dummen Spott anderer Barbaren preiszugeben? Täglich plagt mich heuer die Entscheidung, was echt und was Betrug, und selbst über die Urheberschaft des geschriebenen Wortes besteht, welch Hölle, oft keine Gewissheit mehr, wo Bots und verlogene Denunzianten die bereits Desorientierten in den Schlund endloser Unwissenheit zu stoßen trachten.
In jedem Fall aber, so wurde mir klar, war dem Verfasser oder der –*in allzu viel an humanistischer Bildung vorenthalten worden.
Mit der Frage nach den Schuldigen musste ich mich, Christian Lindner und dem Gros der modernen Didaktiker sei Dank, nicht lange aufhalten. Jedem von uns stehen sie doch inzwischen klar vor Augen, diese verfusselten, früh ergrauten und ewiggestrigen Überbleibsel des Bildungsbürgertums, die sich hartnäckig weigern, ihre Schüler*innenschaft dort zu unterhalten, alibiesk zu fördern und selbstständig an irgendeinem Unfug arbeiten zu lassen, wo sie sich eben gerade befindet, in den trübsten Tümpeln erbarmungswürdiger Geistlosigkeit nämlich, die sich infolge des unablässigen Scheiße-Regens aus der medial aufgemotzten Kulturindustrie allmählich zu einem Ozean verbinden. Unbeirrt verzweifelt wollen sie ihre Bedenken bezüglich der Digitalisierung nicht hintanstellen und quälen ihre hilflosen Schutzbefohlenen mit notorisch zu langen Texten, die diese nicht verstehen und deren Inhalt bei keinem Bewerbungsgespräch jemals abgeprüft werden wird. Wort für Wort, so verlangen diese Irren, soll sich das beschädigte Humankapital von morgen durch Sätze, die kein Emoji und kein Bild erklärt, kämpfen, bis die Augen brennen und der Zement in den Klotzköpfen endlich bröckelt. Das wird nicht passieren.
Die kapitalistische Wirtschaft produziert, darüber wollen wir nicht streiten, mehr Nippes als diese Welt auf Dauer zu tragen vermag, aber ihr, ihr verantwortet Langweile und Frust en masse, weil ihr darauf besteht, auf OHP-Folien und Tafeln Sinn zu entwickeln und festzuhalten, anstatt euer kaum noch ansprechbares Publikum einfach in Ruhe über seine einsam leuchtenden Notebooks und daseinsformenden Telefone wischen zu lassen. Wen wundert´s also, wenn die heillos überforderten Kids, von ihren Erzeugern längst auf intellektueller Augenhöhe verzogen und von euren jüngeren Kolleg*innen genau dort unterrichtet, all euren heiligen Begriffen mit Abscheu begegnen und Frauen, die einen eigenen Willen bekunden, lediglich deshalb nicht als „Emanzen“ beschimpfen, weil sie das Wort „Emanzipation“ nur Sekundenbruchteile, nachdem ihr es ausgesprochen, wieder vergessen haben. Ach, ihr Tröpfe!
Solch schwarzen Gedanken nachhängend lief ich den Haltepunkt auf und ab, fluchte vor mich hin und harrte der Ankunft meiner sich zuverlässig verspätenden Bahn. Da wurde ich an einem anderen Mast einer zweiten Notiz gewahr. In der wackeligen Schrift eines tapferen Tremor-Eigentümers stand dort: „Emirhan ist Bock“.
„Gottverdammt!“ rief ich, zum Erschrecken einer noch älteren Wartenden. „Was soll das nun wieder?“ Erneut gab es bloß Fragen und keine zuverlässigen Antworten! War hier schlicht der unbestimmte Artikel geschliffen worden, der dem Satzbauversuch mindestens zwei auf den ersten Blick nachvollziehbare Bedeutungen verschafft hätte? Emirhan, so dachte ich, wäre dann in der Wahrnehmung des Verfassers entweder ein Mensch mit einer bemerkenswert starken Libido oder eine furchterregende, geradezu teuflische Erscheinung, was zumindest die zittrige Führung des Eddings erklärt hätte. Vielleicht hatte der Schmierfink auf Entzug aber auch einfach die Verben „sein“ und „haben“ verwechselt und wollte eigentlich ein starkes Lustgefühl, welches Emirhan plötzlich überkommen hatte, zum Ausdruck bringen. Ebenso konnten die drei Wörter als Antwort auf Aleens Ansinnen gelesen werden. Möglicherweise waren Emirhan und der Schreiber sogar ein und dieselbe Person. War Emirhan dann etwa schwul? Oder hatte er Aleens deutlich komplexere Nachricht nicht begriffen?
Zuletzt, die Bahn war noch immer nicht da, aber der Himmel weinte auf mein müdes Haupt, verfiel ich auf eine ganz andere Idee. Wie, so schoss es mir durch den Kopf, wenn mein alter Genosse Swen Bock, einst Herausgeber eines mittelprächtigen Punkrock-Magazins und jetzt ebenfalls Lehrer, von Depressionen und Ekel heimgesucht, seinen Beruf an den Nagel gehängt und als verdeckter Ermittler beim ehemaligen Feind angeheuert hätte? Was, wenn er, in Dealer- und Zuhälterkreisen nun als Emirhan bekannt, kürzlich in Hochfeld enttarnt worden und bald schon an unzähligen Laternenmasten Duisburgs sein Todesurteil zu finden wäre?
Im Zuge stehend, die Gleise unter mir, erwog ich, ihn anzurufen, doch gab es im Tunnel keine Verbindung mehr.
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