Der Titeltrack des 1989 veröffentlichten Neubauten Albums ist in meinen Augen ein echter Leckerbissen, der auch trotz der mitgelieferten Analyse vom englischen Musikjournalisten Biba Kopf noch genügend Platz für eigene Entdeckungen lässt.
Musikalisch ist das Album ja das tanzbarste Album, mit dem man durchaus die Fans des krachigen / sperrigen Kollapssounds entgültig vor den Kopf stieß. Gleichwohl markiert es den Schritt zum ruhigen Neubautensound, bei dem Blixa Bargeld deutlicher als ohnehin im Mittelpunkt steht.
„Haus der Lüge“ präsentiert sich der äußeren Form nach in der wohlbekannten Gedichtsform in sechs Strophen, die die vier Etagen und das Dach- sowie Erdgeschoss beschreiben. Dabei verzichtet Bargeld auf jegliche ‚reim dich, oder ich fress dich‘-Deko. Gleichwohl ist es sehr rhythmisch und auch der Vortrag im Song findet seine Entsprechung in seiner Typografie. Hier ist alles so durchdacht, dass ich gar nicht weiß, wo ich anfangen will.
Der Titel weckt heute natürlich Assoziationen mit schlechten Fernsehserien und ungesunder Ernährung, erinnert aber zur guten alten BRD-Zeit an Museen wie dem Haus der Geschichte oder dem Haus der Technik. So fühle ich mich denn auch mitgenommen auf einen Besuch im Museum der Lüge und Blixa Bargeld zeigt mir die Exponate in den Geschossen.
Gleich im ersten Geschoss begegnen einem diejenigen, die ihren Glauben mit sinnlicher Erfahrung begründen, obwohl ihnen die entsprechenden akustischen und visuellen Sinnesvermögen fehlen. Diese Paradoxen werden durch die Anapher ‚DIE GLAUBEN WAS …‘ von dem einzelnen Irren abgegrenzt, der zwar zur Überprüfung des Glaubens fähig wäre, aber gefesselt auf einem Stuhl sitzt und nichts von dem anfasst, was er begreifen könnte (‚SEINE HÄNDE LIEGEN IM SCHOSS‘). Durch die konsequente Großschreibung fällt hier erstmalig die Homographie vom SCHOSS im GESCHOSS im Sinne von Etage und SCHOSS als Gemächt / Leibesmitte auf.
Der Fahrstuhl hält dann in der zweiten Etage, wo es nicht viel zu sehen gibt, außer Mieter, die ihre Aufmerksamkeit den mit Rauhfaser tapezierten Wänden schenken. Diese werden mit den beiden Polyptotonen ‚ROLLE FÜR ROLLE‘ und ‚BAHN FÜR BAHN‘ prominent eingeführt. Die Mieter suchen in den Mustern nach Druck- und Rechtschreibfehlern, als ob es darin etwas zu lesen gäbe. Zur Erkenntnis sind sie nicht fähig, sie könnten nichtmal ihren Namen entziffern, spottet Bargeld im letzten Vers.
Das dritte Geschoss wird nur als nächstes Geschoss benannt und ist auch nur über eine Treppe erreichbar. Dieses ist unvollständig, denn hier wird der Boden mit Kacheln aus Irrtümern gefliest. Mit beißendem Spott, der Exclamation des Polyptotons ‚WUNDER OH WUNDER!‘, kommentiert Bargeld diese Baustelle. Ganze Verse werden ausgelassen und die bestehenden Irrtümer dürfen nicht angerührt werden. Die gehören auch nicht den Mietern sondern einer namenlosen Firma.
In der vierten Etage hält der Fahrstuhl wieder, denn hier, fast unterm Dach, wohnt der Architekt, der das Haus der Lüge aus Ideen geschaffen hat. In dieser Tätigkeit, Ideen zu manifestieren, geht er auf. Das Haus zwischen FUNDA- BIS FIRMAMENT wird in dem letzten Vers zu FUNDAMENT BIS ZUR FIRMA. Durch die Weglassung des Ergänzungsstrichs fällt das Affix -ment weg und das geistige Dach wird zu einer ziemlich weltlichen Firma. Die Lüge wird so aufgedeckt.
Kommen wir nun zum Erdgeschoss, das uns mit Ausgängen aus vier Türen in die vermeintliche Freiheit täuscht. Stattdessen landen wir im Beton im Grundstein aus Lego. Mit einem erneuten Ausruf ‚GRUNDSTEINLEGO!‘ wird zynisch auf die zweckmäßige Fertigbauweise unseres Hauses hingewiesen. Hier gibt es kein Entkommen. Faschismus, Bösartigkeit sowie Umkehr und Buße bieten uns in den letzten drei Versen Orientierung. EIGENE GEDANKEN SIND GESTRICHEN.
Und das Beste kommt natürlich zum Schluss. Denkt man natürlich. Wir kommen gerade rechtzeitig, um im beschädigten Dachgeschoss Gott beim Suizid zuzusehen. Seine Engel liegen vorher schon tot herum. Diese nach seinem Ebenbild geschaffenen Wesen konnten schon keine Botschaften mehr von ihm verkünden. Zeitdehnend wird der Weg des GESCHOSS (hier als Kugel) in den Schädel, durch ihn und das Dachfirst durch in fünf Versen zelebriert. Und da denkt man natürlich sofort an Nietzsches ‚Gott ist tot‘, wenn das durch Wiederholung ‚GOTT HAT SICH ERSCHOSSEN‘ und ‚EIN DACHGESCHOSS WIRD AUSGEBAUT‘ gefeiert wird. Aber der Song endet nicht im pathetischen Gerede vom Ecce Homo, sondern schmettert uns eine zweifache Lüge entgegen, die durch ein Komma getrennt wird. Damit wird klar, dass es im Haus der Lüge keine Gewissheit gibt, denn es ein in sich geschlossenes System, aus dem es kein Entkommen gibt, nur sinnloses Herumstochern wie in den ersten beiden Strophen. Ob Gott nun tot ist, jemals gelebt hat oder was auch immer, wir stochern nicht nur im Dunkel, es gibt auch nichts zu entdecken, außer Ideen, die wir nicht begreifen können.
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